Leukämoide Reaktion und schwere Ernährungsstörung im Säuglingsalter als besondere Symptome des Noonan-Syndroms

Leukämoide Reaktion und schwere Ernährungsstörung im Säuglingsalter als besondere Symptome des Noonan-Syndroms

Prof. Dr. Dr. Birgit Zirn

Sara (Name geändert) ist ein 16 Monate altes Mädchen, das sich psychomotorisch altersentsprechend entwickelt. Sie wird in unserer genetischen Sprechstunde vorgestellt mit der Frage, ob eine syndromale Ursache ihrer schweren Ernährungsstörung vorliegen könnte. Zudem hatte Sara in den ersten Wochen eine leukämoide Reaktion.

In der klinisch-genetischen Untersuchung zeigt Sara folgenden Befund:
Die 16 Monate alte Sara wurde in einem guten Allgemein- und sehr schlanken Ernährungszustand vorgestellt. Sie zeigte eine psychomotorisch altersentsprechende Entwicklung und sprach einzelne Worte. Sie konnte sich an Gegenständen hochziehen und wenige Schritte frei laufen. Es zeigte sich ein symmetrisches und sehr schmales Muskelrelief, Hände und Füße waren unauffällig. Es fiel ein relativ groß wirkender Kopf mit einem kleinen Mittelgesicht mit großen Augen ohne Ptosis und etwas tief angesetzte Ohren auf. Der Haaransatz der blonden dünnen Haare ebenso wie die Haut und das Genitale waren unauffällig. Die Körpermaße bei der U6 (1 Jahr) lagen bei 6120 g (1kg <="" p3)="" und="" bei="" 42cm="" (1cm="" für="" den="" kopfumfang.

Die Mutter berichtete, dass die Schwangerschaft unauffällig verlaufen sei und die Geburt spontan in der 38+0. SSW mit niedrig-normalen Körpermaßen (GG 2660g (P11), GL 48cm (P15), KU 32,5cm (P8)) erfolgte. Der APGAR betrug 10/10 und der Nabelschnur-pH 7,26. Sara wurde zunächst nach 3 Tagen entlassen. Der Hebamme war dann eine leichte Gelbfärbung der Haut aufgefallen, sodass am 5. Lebenstag eine Blutuntersuchung erfolgte. Das Bilirubin lag durchgehend knapp unterhalb des Phototherapie bedürftigen Bereiches, sodass keine Phototherapie durchgeführt wurde. Allerdings wurde eine Leukozytose in Kombination mit einer Thrombozytopenie festgestellt, weshalb Sara ab dem 5. Lebenstag stationär zur weiteren Abklärung aufgenommen wurde. Es ergab sich kein Hinweis auf ein myelodysplastisches Syndrom. Zudem wurde eine Chromosomenuntersuchung mit unauffälligem Befund (46,XX) durchgeführt, dabei wurde auch ein niedrig-gradiges Trisomie 21-Mosaik ausgeschlossen. Des Weiteren erfolgte eine genetische Untersuchung des GATA1-Gens aus Blut der Guthrie-Karte und zuletzt wurde auch eine seltene NAIT (neonatale Alloimmunthrombozytopenie) ausgeschlossen. Es ergab sich auch kein Hinweis auf eine Tumorlyse, so dass auf eine Knochenmarkpunktion verzichtet wurde. Es wurde die Verdachtsdiagnose einer leukämoiden Reaktion gestellt, weitere zunächst engmaschige Kontrollen des Blutes ergaben keinerlei Auffälligkeiten.

Sara wurde zunächst 1,5 Monate gestillt. Ab dem Alter von 4 Monaten hat Sara Breikost erhalten und seit dem 1. Geburtstag isst sie am Tisch sehr kleine Portionen mit. Mit 3 Monaten wurde Sara stationär zur Abklärung eine Gedeihstörung aufgenommen, hier wurde erstmals der Verdacht auf eine syndromale Ursache der Symptomatik geäußert.

Diagnostik des Noonan-Syndroms am genetikum

Wir schlugen den Eltern von Sara im ersten Schritt nun die Durchführung einer array-CGH zum Ausschluss von chromosomalen Mikrodeletionen und Mikroduplikationen vor, die jedoch einen unauffälligen Befund ergab. Daraufhin wurde auf Grund der Symptomatik die Abklärung des Noonan-Syndroms in Betracht gezogen und eine diesbezügliche molekulargenetische durchgeführt. Dabei wurde eine pathogene heterozygote Mutation im PTPN11-Gen (c.1507G>C; p.Gly503Arg) nachgewiesen.

Wir sprachen ausführlich über die sehr variable Symptomatik im Rahmen eines Noonan-Syndroms:
Das Noonan-Syndrom ist nach der amerikanischen Kinderkardiologen Jaqueline Noonan benannt und ist häufig schwer zu diagnostizieren, auch weil es kein einheitliches Erscheinungsbild dieses Syndroms gibt. Alle möglichen Merkmale treten in unterschiedlichen Ausprägungen auf, und keines der Merkmale ist bei allen Betroffenen vorhanden. Die Häufigkeit des Noonan-Syndroms wird mit etwa 1 auf 1000-2500 angegeben. Beide Geschlechter sind gleich häufig vertreten. Etwa die Hälfte der Betroffenen mit Noonan-Syndrom haben eine heterozygote (= eine von 2 Genkopien betreffende) Mutation im PTPN11-Gen. Mutationen im PTPN11-Gen treten entweder neu bei einem Betroffenen auf, oder werden im Rahmen der autosomal-dominanten Vererbung von einem betroffenen Elternteil weitergegeben. Das Vererbungsrisiko bei einem betroffenen Elternteil beträgt 50%. Des Weiteren sind Mutationen in verschiedenen weiteren Genen (z.B. SOS1, RAF1, RIT1) bekannt, die zu einer überlappenden Ausprägung führen können.

Beurteilung

Diese in der Fachliteratur beschriebene und bekannte Mutation des Noonan-Syndroms kann nun als Ursache für die Symptome von Sara (Dystrophie mit Mikrozephalie, Ernährungsstörung, tief angesetzte Ohren und transiente leukämoide Reaktion nach der Geburt) angesehen werden. Die Eltern von Sara weisen diese Mutation nicht auf, daher ist von einer Neumutation auszugehen.

Für weitere Schwangerschaften ist daher von einem niedrigen Wiederholungs-Risiko (<1%) auszugehen. Dies steht in Zusammenhang mit der Möglichkeit eines seltenen Keimzell-Mosaiks bei einem Elternteil. In diesem Fall betrifft die Genmutation nicht nur die eine Eizelle oder das eine Spermium, aus dem ein betroffenes Kind hervorgegangen ist, sondern auch weitere Keimzellen desselben Elternteils, was im Blut nicht nachweisbar ist. Sara vererbt die PTPN11-Genmutation entsprechend des autosomal-dominanten Erbgangs an statistisch 50% späterer eigener Nachkommen. Diesbezüglich sollte Sarah eine genetische Beratung vor eigenem Kinderwunsch wahrnehmen.

Symptome des Noonan-Syndroms

Charakteristische Gesichtszüge:
Weiter Augenabstand, Ptosis (hängendes Oberlid), schräge Lidachse, breiter und flacher Nasenrücken, hoch gewölbter Gaumen, enger Kiefer, Zahnfehlstellung und teilweise erhöhte Kariestendenz, tiefsitzende Ohren, kurzer, breiter Hals, zusätzliche Nackenfalte.

Herz:
Valvuläre Pulmonalstenose, Vorhofseptumdefekt, hypertrophe Kardiomyopathie (kann bei der Geburt vorhanden sein oder sich im Laufe der Kindheit entwickeln), andere Herzfehlbildungen.

Muskel- und Skelettsystem:
Auffälligkeiten des Brustkorbs (Kielbrust oder Trichterbrust), Neigung zu Skoliosen, Abschwächung des Muskeltonus oder Muskelhypotonie.
 
Wachstum:
Meist im untersten Normalbereich, teilweise Kleinwuchs, Erwachsenen-Endgröße bei Frauen ca. 150-155 cm, Therapie mit Wachstumshormon möglich, wenn die Wachstumsprognose unterhalb dieses Bereiches liegt. Verzögertes Knochenalter meist um ca. 2 Jahre, verspätete Pubertät, Längenwachstum meist bis Anfang 20.

Ernährungsstörung:
Betrifft typischerweise das Säuglingsalter bis zum Alter von 18 Monaten. Zunächst Saugschwäche, teilweise gehäuftes Erbrechen. Im Verlauf deutliche Besserung.

Entwicklung:
Aufgrund der Muskelhypotonie teilweise verzögertes Erreichen der motorischen Meilensteine, teilweise Sprachentwicklungs-Verzögerung. Spätes Zahnen und später Zahnwechsel. Die meisten Kinder entwickeln sich im Rahmen der normalen Spanne. Etwa 1/4 der Kinder weist eine leichte Entwicklungsstörung auf, etwa 10-15% besuchen längerfristig eine Förderschule.

Augen:
Etwa 90% der Betroffenen haben eine Refraktionsanomalie und benötigen eine Brille, das Risiko für Astigmatismus (Hornhautverkrümmung) und Schielen ist erhöht.

Blutgerinnungsstörungen:
Sehr variabel ausgeprägt, auch das Risiko für blaue Flecken ist erhöht. Vor Operationen sollte der Narkosearzt informiert werden.

Nierenfehlbildungen:
Bei ca. 10-20% der Betroffenen vorliegend.

Störungen im lymphatischen System:
Zum Beispiel Lymphödeme.

Leukämien und Tumoren:
Insgesamt ist das Risiko für maligne Erkrankungen beim Noonan-Syndrom etwa 8 mal höher als in der Vergleichsbevölkerung ohne Noonan-Syndrom. Myeloproliferative Erkrankungen sowie akute lymphoblastische und myeloische Leukämien (ALL und AML) treten gehäuft auf, auch bereits nach der Geburt, der Verlauf ist gutartiger und häufiger selbstlimitierend als bei Erkrankungen mit anderer Ursache. Im Jugendalter kann eine JMML (juvenile myelomonozytische Leukämie) auftreten, im Vergleich zu einer JMML mit anderer Ursache ist der Verlauf beim Noonan-Syndrom weniger schwer. Eine JMML tritt vor allem bei PTPN11-Genmutationen auf, die die Codons 61, 71, 72 und 76 betreffen.

Klinisches Management

Herz:
Es liegt kein struktureller Herzfehler vor, im Verlauf besteht jedoch ein geringgradiges Risiko für eine sich entwickelnde hypertrophe Kardiomyopathie.
 
Ultraschall Abdomen:
Das Risiko für Nierenfehlbildungen und Nierenfehlfunktion ist leicht erhöht, eine vergrößerte Leber kann ein Frühsymptom einer JMML sein.

Blutbild und Gerinnung:
Blutentnahmen in größeren Abständen aufgrund des erhöhten Leukämie-Risikos und gehäufter Blutgerinnungs-Störungen. Vor geplanten Operationen sollte der Narkosearzt informiert werden.

Augen:
Erhöhtes Risiko für Fehlsichtigkeit, Strabismus und Astigmatismus.

Längenwachstum:
Zunächst Dokumentation, ggf. endokrinologische Abklärung und Beratung der Eltern bezüglich einer Therapie mit Wachstumshormon im Verlauf.

Entwicklung:
Aktuell kein Bedarf zusätzlicher Untersuchungen, da sich Sara altersentsprechend entwickelt.

Elternselbsthilfe:
Infos zum Noonan-Syndrom und zur Selbsthilfegruppe http://www.noonan-kinder.de.

Fazit

Eine leukämoide Reaktion nach der Geburt stellt ein seltenes aber typisches Symptom des Noonan-Syndroms dar. Eine Ernährungsstörung weisen hingegen viele Kinder mit Noonan-Syndrom auf. Die psychomotorische Entwicklung bei Kindern mit Noonan-Syndrom verläuft erfreulicherweise – wie bei Sara – häufig altersentsprechend.