MED13L-Syndrom: Entwicklungsstörung mit einer seltenen genetischen Ursache

MED13L-Syndrom: Entwicklungsstörung mit einer seltenen genetischen Ursache

Prof. Dr. Dr. Birgit Zirn und Dr. Maren Wenzel

Auffällige äußere Merkmale und eine verzögerte motorische und sprachliche Entwicklung bei Maximilian ließen an eine Gen-Mutation denken. Aber erst das klinische Exom – ein Verfahren des Next Generation Sequencing (NGS) – brachte Gewissheit.

Der zweieinhalbjährige Maximilian entwickelt sich motorisch und sprachlich verzögert. Die Kinderärztin hat daher eine Vorstellung in der genetischen Sprechstunde empfohlen. Die Eltern berichten, dass nach der Geburt zunächst alles in Ordnung schien: Maximilian war fit und wurde voll gestillt. Im Alter von 6 Monaten wollte er jedoch keinen Brei essen und wurde daher bis zum 18. Monat voll gestillt. Bereits in Maximilians erstem Lebensjahr fiel den Eltern seine verzögerte motorische Entwicklung auf, erst nach dem zweiten Geburtstag machte der Sohn seine ersten Schritte. Die Eltern berichten, Maximilian nehme gerne Kontakt auf, er sei sehr freundlich und zugewandt, spreche jedoch nur wenige, kurze Worte. Sein Längenwachstum verläuft im untersten Normalbereich. Die Eltern sind gesund und nicht miteinander verwandt. Die beiden Geschwister von Maximilian entwickeln sich unauffällig.

Genetische Sprechstunde und Diagnose

Maximilian wird in der genetischen Sprechstunde zunächst körperlich untersucht: Seine Ohren sind etwas tief angesetzt und nach hinten rotiert. Die Stirn erscheint hoch, die Nasenwurzel ist etwas eingesunken und der Augenabstand verbreitert. Maximilians Mund steht häufig offen und er speichelt. An beiden Kleinzehen zeigt sich eine deutliche Einwärtsdrehung (Klinodaktylie). Auf Wunsch der Eltern wird bei Maximilian Blut für eine genetische Diagnostik entnommen. Die genetische Basisabklärung mittels Chromosomenanalyse und hochauflösender array-CGH ergibt aber Normalbefunde ohne Hinweis auf eine ursächliche Chromosomenveränderung. Erst das sogenannte klinische Exom führt zur Diagnose: Bei dieser neuen genetischen Methode können viele tausend Gene in einem Ansatz parallel analysiert werden. Ausgewertet werden anschließend solche Gene, die zur klinischen Symptomatik passen. Bei Maximilian findet sich eine heterozygote Mutation im MED13L-Gen, durch die eine der beiden MED13L-Genkopien funktionslos ist. Damit ist die Diagnose klar: Bei Maximilian liegt ein MED13L-Syndrom vor.

MED13L-Syndrom: Was ist bekannt?

In der Fachliteratur werden für das MED13L-Syndrom folgende Auffälligkeiten beschrieben: Entwicklungsverzögerungen im motorischen und sprachlichen Bereich, angeborene Fehlbildungen (v. a. Herzfehler), Verhaltensauffälligkeiten und Besonderheiten der äußeren Erscheinung. Kinder mit MED13L-Syndrom sehen sich äußerlich ähnlich: Ihre Ohren sind meist tief angesetzt, der Augenabstand ist weit, die Nasenspitze erscheint rundlich und aufgrund der verringerten Spannung der Gesichtsmuskulatur steht der Mund häufig offen und der Speichelfluss kann vermehrt sein. Diese äußerlichen Merkmale liegen auch bei Maximilian vor. Hinweise auf einen Herzfehler oder andere Organfehlbildungen finden sich bei ihm erfreulicherweise aber nicht.
 
Beim MED13L-Syndrom kommen zudem gehäuft Fehlstellungen der Gelenke an Händen und Füßen vor, insbesondere eine Klinodaktylie der Kleinzehen wie bei Maximilian. In der Schädel-MRT-Untersuchung kann eine verzögerte Myelinisierung vorliegen. Etwa die Hälfte der beschriebenen Kinder hat eine Sehstörung, ein kleinerer Anteil eine milde Hörstörung. Bei betroffenen Jungen findet sich gehäuft ein Hodenhochstand. Neben der allgemeinen Entwicklungsverzögerung ist auch die längerfristige intellektuelle Entwicklung beim MED13L-Syndrom häufig eingeschränkt – die Kinder sind in der Regelschule meist überfordert. Verhaltensauffälligkeiten (z. B. Autismus-nahe Verhaltensweisen) wurden bislang nur bei einem Teil der Betroffenen beschrieben. Eher zeichnen sich die Kinder durch ihre ausgeprägte Kommunikationsfähigkeit und ein sehr freundliches Verhalten aus.
 
 
Auch eine Fehlstellung der Kleinzehen (Klinodaktylie) ist häufig.

Wie ist die Mutation entstanden?

Bei Maximilian ist es zu einer Neumutation gekommen, denn beide Eltern weisen die Veränderung im MED13L-Gen nicht auf. Sehr wahrscheinlich ist die MED13L-Genmutation zufällig und neu in einer der beiden Keimzellen (Ei- oder Samenzelle), aus der die Schwangerschaft mit Maximilian hervorging, entstanden. Ein deutlich erhöhtes Risiko für weitere Kinder der Eltern besteht daher nicht. Allerdings kann ein geringes Restrisiko durch ein sogenanntes Keimbahn-Mosaik nicht ausgeschlossen werden. Hierbei sind mehrere Keimzellen eines Elternteils von derselben Mutation betroffen, ohne dass dies im Blut nachweisbar ist. Sicherheitshalber kann den Eltern in weiteren Schwangerschaften eine vorgeburtliche Diagnostik angeboten werden. Maximilian selbst wird die Mutation im MED13L-Gen an die Hälfte (50%) seiner späteren Nachkommen vererben.