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Wissenschaft, die Hoffnung schafft:
Genetische Diagnostik bei unerfülltem Kinderwunsch

Jahr für Jahr wird durch das Karolinska-Institut in Schweden der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin an Persönlichkeiten vergeben, „die der Menschheit den größten Nutzen erwiesen“ haben. 2010 ging eine dieser Auszeichnungen an den britischen Reproduktionsmediziner Sir Robert G. Edwards für seine Pionierarbeit zur Entwicklung der In-vitro-Fertilisation (IVF) in den 1960er und 1970er Jahren. 1978 wurde mit Louise Brown das erste durch IVF gezeugte Kind geboren. Nur vier Jahre später folgte in Deutschland das erste „Retortenbaby“. Was damals als revolutionär galt, ist heute eine weit verbreitete Methode, die Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch neue Hoffnung gibt.

Infertilität wird als das Ausbleiben einer Schwangerschaft trotz regelmäßigen ungeschützten Geschlechtsverkehrs über einen Zeitraum von zwölf Monaten definiert. Etwa 17% der Paare sind davon betroffen. Es gibt eine Vielzahl möglicher Ursachen. Zur Klärung erfolgen in der Regel zunächst eine umfassende gynäkologische und/oder andrologische Untersuchung: Eigen- und Familienanamnese, körperliche Untersuchung, Messung der Sexualhormone, Ultraschall und Spermiogramm gehören zu den etablierten Standardverfahren. In vielen Fällen empfiehlt sich eine genetische Diagnostik, die auf den Ergebnissen der klinischen Untersuchung basiert.


Karyotypisierung

Eine Chromosomenanalyse (Karyotypisierung) aus Lymphozyten beider Partner gehört in bestimmten Konstellationen zur Basisabklärung. Die Untersuchung erfolgt aus einer Heparin-Blutprobe (Befundübermittlung nach ca. 2 Wochen) und ist indiziert bei:

  • wiederholten Fehlgeburten im 1. Trimenon oder Totgeburt (V. a. z. B. Chromosomentranslokationen, Inversionen)
  • Verdacht auf Ullrich-Turner-Syndrom (hypergonadotroper Hypogonadismus, Kleinwuchs, Herz- und Nierenanomalien; Karyotyp 45,X)
  • Prämaturer Ovarialinsuffizienz (V. a. z. B. Triple-X-Konstellation: 47,XXX)
  • schwerer Oligo- oder Azoospermie (V. a. z. B. Klinefelter-Syndrom: 47,XXY oder strukturelle Chromosomenveränderungen wie Translokationen)


Molekulargenetische Untersuchungen

Auch einige molekulargenetische Untersuchungen sind seit einigen Jahren etabliert und sollten entsprechend der S2k-Leitlinie „Diagnostik und Therapie vor einer assistierten reproduktionsmedizinischen Behandlung“ durchgeführt werden:

  • FMR1-Repeat-Analyse bei V.a. prämature Ovarialinsuffizienz
  • CYP21A2-Analyse bei V.a. Adrenogenitales Syndrom (AGS)
  • Abklärung von AZF-Mikrodeletionen bei schwerer Oligozoospermie
  • Analyse des CFTR- und ADGRG2-Gens bei V. a. obstruktive Azoospermie


Dank Next-Generation Sequencing (NGS) können heute parallel spezifische Genpanels auf zahlreiche monogene Ursachen untersucht werden. Diese Methode bietet sich besonders bei folgenden Indikationen an:

  • Hypogonadotroper Hypogonadismus
  • Oligo-/Azoospermie
  • Prämature Ovarialinsuffizienz
  • Eizellreifungsstörung / embryonaler Arrest
  • Rezidivierende Molenschwangerschaften

 

Wozu die genetische Diagnostik?

In erster Linie dient die genetische Abklärung dazu, die Ursache für die ungewollte Kinderlosigkeit zu erkennen – bereits ein Befund kann den betroffenen Paaren eine spürbare emotionale Entlastung bieten. Darüber hinaus liefert der Befund wertvolle Hinweise für die weitere Behandlung, zum Beispiel:

  • Erfolgsprognose bei einer Hodenbiopsie (TESE)
  • Indikation für ICSI statt konventioneller IVF
  • Risikoeinschätzung für genetische Erkrankungen bei Nachkommen (z. B. fragiles-X-Syndrom, Mukoviszidose oder Chromosomenstörungen)
  • daraus folgend gegebenenfalls Indikation für eine Präimplantationsdiagnostik (PID) im Rahmen der reproduktionsmedizinischen Behandlung
  • frühzeitige therapeutische Maßnahmen (z. B. Hormonsubstitution bei Turner- oder Klinefelter-Syndrom)


Literatur:

  • Dtsch Arztebl Int 2025; 122: 115-20
  • S2k-Leitlinie Diagnostik und Therapie vor einer assistierten reproduktionsmedizinischen Behandlung Version 1.0

Autor
Dr. med. univ. Niklas Hirschberger
Leitung Pränatalteam / Facharzt für Humangenetik / European Certificate in Medical Genetics and Genomics (ECMGG)

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