„Mit Selbsthilfegruppen ist es wie mit den Fachärzten für Humangenetik – viele wissen nicht, dass es sie gibt, bis man sie plötzlich braucht.“
Dr. med. Julia Mühlberger, Fachärztin für Humangenetik und medizinische Leitung im genetikum, teilt ihre persönliche Geschichte – als Mutter, Medizinerin und Initiatorin einer Zöliakie-Selbsthilfegruppe.
Januar 2015
Wieder einmal hat mein Sohn nach seinem Eingewöhnungsversuch in der neuen Kindertagesstätte fast drei Stunden geschlafen. Wieder einmal war das Bett nach einem „Unfall“ völlig durchnässt. Neu beziehen, abduschen, beruhigen – seit Tagen wiederholt sich dieses Muster. Kein Fieber, kein Erbrechen, nur Durchfälle. Aber die in einem besorgniserregenden Ausmaß. Hinzu kommt, dass mein Sohn blass und erschöpft ist. Keine Lust, auf den Spielplatz zu gehen, kein Interesse am Rutschauto. Auf jedes Angebot folgt nur ein kraftloses „Mag nicht“.
Hochschwanger sitze ich wenige Stunden später mit ihm beim Kinderarzt. Ich schildere die Symptome und breche immer wieder in Tränen aus, weil ich das dumpfe Gefühl habe, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist. Der Kinderarzt nimmt Blut ab, und nach einiger Zeit können wir mit einer ersten Erleichterung nach Hause gehen: Es gibt keine Hinweise auf Diabetes oder Leukämie. Doch die weiteren Laborergebnisse stehen noch aus.
Wenige Tage später kommt das Geschwisterkind zur Welt – etwas früher als erwartet. Am Tag nach der Entbindung erhalten wir den Anruf vom Kinderarzt: Die Zöliakie-spezifischen Antikörper im Blut sind deutlich erhöht. Alles deutet auf eine Zöliakie hin. Eine abschließende Diagnose braucht jedoch eine Biopsie von Magen und Zwölffingerdarm.
Zöliakie. Das Wort hallt nach. Ich erinnere mich an eine Pädiatrie-Vorlesung im Studium. Vor meinem inneren Auge taucht das Bild eines abgemagerten Kindes mit aufgeblähtem Bauch auf.
Wir haben nun einen Namen für das, was los ist, und tausend neue Fragen. Erste Antworten finden wir auf der Website der Deutschen Zöliakiegesellschaft (DZG). Wir werden Mitglied und haben ein großes Bedürfnis nach Austausch, nach Orientierung. Doch eine Selbsthilfegruppe für betroffene Kinder und ihre Familien gibt es in Ulm und Umgebung zu dieser Zeit nicht.
Februar 2025
Fast ein Jahrzehnt ist vergangen. Seitdem leite ich die Kindergruppe der DZG im Raum Ulm, Neu-Ulm und Alb-Donaukreis. Ende 2015 habe ich die Grundschulung für Kontaktpersonen abgeschlossen und seither unzählige Treffen für Kinder mit Zöliakie und deren Familien organisiert sowie stundenlange Telefonate mit Eltern geführt.
Die Diagnose bedeutet für die meisten Familie vor allem eines: Verunsicherung. Plötzlich lauern überall im Alltag neue Herausforderungen. Spontaneität wird zum Luxus. Die Brezel zwischendurch, weil der Einkauf länger dauert als geplant? Undenkbar. Ein spontaner Besuch in der Lieblingspizzeria? Nur selten möglich – glutenfreie Angebote sind keine Selbstverständlichkeit. Selbst Urlaubsplanung bekommt eine neue Dimension: Nicht die Nähe zum Meer entscheidet über das Reiseziel, sondern die Frage, wie gut sich der „Zöli“ dort versorgen lässt.
Aber: Mit der glutenfreien Ernährung kehrt meist schnell Besserung ein. Und mit der Zeit entwickeln die Eltern, später auch die Kinder selbst, Strategien, um mit der Erkrankung umzugehen. Selbsthilfegruppen können dabei enorme Unterstützung bieten. Sie geben Halt, Perspektive, Mut – im besten Fall echte Hilfe zur Selbsthilfe.
Heute zählt unsere „Ulmer-Zöli-Gruppe“ über 80 Familien, und noch immer freue ich mich über jede einzelne, die nach einer turbulenten Anfangszeit ihren eigenen Weg findet – zurück in einen Alltag voller Zuversicht.
HLAs
Eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung einer Zöliakie ist das Vorhandensein spezifischer HLA-Typen: HLA-DQ2 und/oder HLA-DQ8. Diese Erbmerkmale finden sich bei etwa 30 % der Allgemeinbevölkerung – jedoch entwickelt nur etwa 1 % tatsächlich eine Zöliakie. Der HLA-Nachweis eignet sich daher nicht zur Diagnosesicherung, kann aber im Rahmen einer Ausschlussdiagnostik genutzt werden: Liegen HLA-DQ2 und DQ8 nicht vor, ist das Risiko, im Laufe des Lebens eine Zöliakie zu entwickeln, äußerst gering. Besonders hilfreich ist dieser Befund bei der Risikoeinschätzung von erstgradigen Angehörigen einer betroffenen Person. So können Geschwistern zum Beispiel wiederholte serologische Kontrolluntersuchungen erspart werden.
Multifaktorielle Erkrankungen
Zöliakie ist ein Beispiel für eine multifaktorielle Erkrankung. Auch zahlreiche angeborene Fehlbildungen wie Herzfehler oder Lippen-Kiefer-Gaumenspalten zählen dazu. Solche Erkrankungen entstehen durch das Zusammenspiel endogener (genetischer) und exogener (umweltbedingter) Einflüsse. Die beteiligten Faktoren lassen sich oft nicht eindeutig benennen. Daher gelten für multifaktorielle Erkrankungen andere Wiederholungswahrscheinlichkeiten als bei klassisch monogenen Erkrankungen. Diese wurden meist durch umfangreiche empirische Studien ermittelt.

Autorin
Dr. med. Julia Mühlberger
Fachärztin für Humangenetik & Medizinische Leitung
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