Beckwith-Wiedemann-Syndrom

Beckwith-Wiedemann-Syndrom - das Kind wächst zu schnell

Dr. med. Maren Wenzel

Die markanten Gesichtszüge und weitere auffällige körperliche Merkmale des kleinen Patienten lassen eine bestimmte genetische Veränderung vermuten. Die entsprechende Untersuchung bestätigt die Diagnose.

Beim neugeborenen Alexander waren Körpergröße und Kopfumgang unauffällig, dann aber wuchs der Junge schneller als erwartet und entwickelte einen sehr großen Kopf (Makrozephalus). Auch seine Zunge wurde sehr groß. Außerdem hat Alexander seit Geburt einen Storchenbiss, der von der Stirn bis zum linken Augenlid reicht, und einen kleinen, etwa fingerkuppen-großen Nabelbruch. Am rechten Ohrläppchen ist eine kleine Kerbe zu sehen. Im Ultraschall zeigte sich, dass die Leber vergrößert ist.
 
Alexanders markante Gesichtszüge in Kombination mit den weiteren Auffälligkeiten (Großwuchs, großer Kopf, Storchenbiss, Nabelbruch, Ohrkerbe, große Leber) lassen an ein Beckwith-Wiedemann-Syndrom denken, welchem unterschiedliche genetische Defekte zugrunde liegen können. Mit der entsprechenden genetischen Abklärung, einer methylierungssensitiven MLPA, konnte der Verdacht bestätigt und die genaue Ursache geklärt werden.

Symptome des BWS-Syndroms

Das Beckwith-Wiedemann-Syndrom (BWS) kann sowohl schon im Mutterleib als auch nach der Geburt zu einem überschießenden Wachstum von Körper und Kopf führen. Manchmal entstehen dadurch Asymmetrien. Meist ist die Zunge auffällig groß, was manche Kinder beim Essen oder Sprechen stört, selten auch beim Atmen. Dann muss über eine Operation nachgedacht werden. Im Verlauf reguliert sich die Zungengröße aber häufig spontan. Das überschießende Wachstum kann auch die inneren Organe wie z. B. die Leber betreffen. In manchen Fällen entsteht ein (bösartiger) Tumor, z. B. an der Leber oder der Niere. Kinder mit BWS haben häufiger als andere Kinder einen angeborenen Herzfehler oder eine angeborene Fehlbildung der Nieren und Harnwege. Zudem ist eine Störung im Kalzium-Haushalt möglich, woraus sich eine Nierenverkalkung entwickeln kann. Erwachsene Männer mit BWS sind manchmal weniger fruchtbar. Die psychomotorische Entwicklung der Kinder verläuft jedoch in aller Regel unauffällig. Mit einer Lernbehinderung oder einer geistigen Behinderung ist nicht zu rechnen.

Wie entsteht das BWS-Syndrom?

Das BWS wird durch bestimmte genetische Veränderungen in einer Region auf Chromosom 11 verursacht, die unter anderem das Wachstum reguliert. Dort sind manche Bereiche vor allem auf der Chromosomenkopie aktiv, die von der Mutter vererbt wurde, andere auf der Kopie, die vom Vater kommt. Verschiedene genetische Phänomene können ein Ungleichgewicht bewirken, zum Beispiel eine „klassische" Mutation, also eine Änderung der Basenabfolge der DNA in diesem Bereich. Möglich ist auch, dass das Kind zwei Kopien des Chromosoms 11 vom Vater geerbt hat (sogenannte paternale uniparentale Disomie 11, UPD11 pat). Oder: In der entscheidenden Region besteht eine Lücke (Deletion) oder im Gegenteil eine Verdoppelung (Duplikation). Auch möglich: Die Methylierung der DNA ist fehlerhaft. Bei etwa der Hälfte der Kinder mit BWS kann eine solche fehlerhafte Methylierung, eine sogenannte IC2-Hypomethylierung, der mütterlichen Chromosomenkopie in der Region IC2 (früher ICR2) nachgewiesen werden.
 
Neue, 2018 veröffentlichte Untersuchungen haben gezeigt, dass manche Symptome bei Kindern mit Beckwith-Wiedemann je nach der ursächlichen genetischen Veränderung häufiger oder seltener vorkommen. So tritt bei der Hypomethylierung der mütterlichen Region IC2 zwar häufiger ein Nabelbruch (oder manchmal auch ein größerer Defekt der Bauchwand) auf, dafür ist das Risiko für die Entstehung eines (bösartigen) Tumors aber geringer (am häufigsten entstehen bösartige Tumoren bei Kindern mit UPD11 pat).
 
Bei einer Methylierungsveränderung oder einer UPD (paternale uniparentale Disomie) ist das Wiederholungsrisiko für weitere Kinder des Elternpaares oder zukünftige Kinder des Patienten gering (< 1 %). Liegt hingegen eine "klassische" Mutation vor (Deletion, Duplikation oder eine andere strukturelle Chromosomenveränderung), kann das Wiederholungsrisiko deutlich höher sein.

Methylierungssensitive MLPA

Bei der MLPA-Analyse (multiplex ligation-depended probe amplification) handelt es sich um eine semiquantitative Methode, mit der an bestimmten Positionen im Genom die Anzahl der Kopien bestimmt werden kann. Eine methylierungssensitive MLPA (MS-MLPA) erlaubt gleichzeitig die Detektion der Kopienzahl und Methylierungsveränderungen, die bei Imprinting-Erkrankungen (z. B. Beckwith-Wiedemann-Syndrom, Prader-Willi-Syndrom oder Angelman-Syndrom) eingesetzt wird. Die je nach elterlicher Herkunft unterschiedlich methylierte DNA wird dabei an bestimmten Positionen durch ein methylierungssensitives Restriktionsenzym behandelt, wobei vor der Amplifikation unmethylierte DNA geschnitten und methylierte DNA nicht geschnitten wird. Dadurch können verschieden methylierte Allele nach der elterlichen Herkunft unterschieden werden.

Klinisches Management des Beckwith-Wiedemann-Syndroms

Nach den aktuellen Consensus-Guidelines 2018:
 

  • NEU: Tumor-Früherkennung je nach genetischer Veränderung: keine routinemäßigen AfP-Kontrollen; keine Routinesonografie bei Hypomethylierung in IC2 (ansonsten Abdomensonografie alle 3 Monate bis zum vollendeten 7. Lebensjahr)
  • regelmäßige entwicklungsneurologische Untersuchungen beim Kinderarzt
  • regelmäßige Kontrolle des Wachstums (ggf. Entwicklung einer Beinlängendifferenz)
  • Kontrolle der Makroglossie (Atmung, Ernährung, Sprache, Kieferorthopädie) und ggf. operative Korrektur
  • kardiologische Basisuntersuchung (EKG und Echokardiografie), Kontrollen nur bei auffälligem Befund
  • nephro-urologische Basisuntersuchung inklusive Ultraschall und Blutdruckmessung, Kontrolle spätestens im Übergang zum Erwachsenenalter