In der genetischen Beratung am genetikum stellte sich ein junges Elternpaar mit weiterem Kinderwunsch vor. Wie auch bei ihrem ersten Kind ist wegen Oligoasthenoteratozoospermie eine In-vitro-Fertilisationsbehandlung (IVF) geplant.
Ihr bisher einziges Kind weist deutliche Entwicklungsstörungen auf und wurde zuvor mit einer Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert. In der Beratung stellte sich die Frage nach der Ursache und der Wiederholungswahrscheinlichkeit seiner Entwicklungsstörung, sowie einer Prognose der weiteren Entwicklung des Kindes und der Wahrscheinlichkeit, dass der Junge überhaupt sprechen lerne.
Der Fall
Der 4 Jahre und 8 Monate alte Junge war aus einer nach IFV-Behandlung eingetretenen und komplikationslos verlaufenen Schwangerschaft spontan geboren worden. Bei der Geburt lagen seine Körpermaße im Normbereich, auch bei der weiteren Entwicklung folgten Längenwachstum und Gewichtszunahme einem anhaltend normalen Verlauf. Auffällig war jedoch ein Abfallen des Kopfumfangswachstums, welches nach dem 4. Lebensjahr unter der 3. Perzentile lag, obwohl sich der Kopfumfang beider Eltern im Normbereich befindet. Das Neugeborene konnte nicht gestillt werden, ließ sich jedoch problemlos mit der Flasche ernähren. Auch lag eine Hypospadie vor, welche zu einem späteren Zeitpunkt operativ korrigiert wurde. Im Säuglingsalter litt das Kind unter viel zu kurzen Schlafphasen und fiel durch häufiges Schreien auf. Bei ausgeprägter Rumpfhypotonie stellte sich zunächst eine motorische Entwicklungsverzögerung heraus. So war freies Sitzen erst mit 19 Monaten und freies Gehen erst nach dem 3. Lebensjahr möglich. Im weiteren Verlauf stellte sich zudem eine Verzögerung der kognitiven Fähigkeiten sowie der Sprachentwicklung ein. Es gelingt dem Jungen nicht, sich in Worten zu äußern; stattdessen bildet er nur Lautketten und macht sich über Mimik und Zeichen verständlich. Im Kindergarten fiel er zudem durch ein nicht adäquates Spielverhalten sowie fremd- und autoaggressive Verhaltensweisen auf. Aus diesen Gründen wurde eine Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert.
Familienanamnese
Die Eltern türkischer Herkunft sind gesund und nicht blutsverwandt. Bei einer Cousine des Kindesvaters liegt das Down-Syndrom vor. Eine erbliche Chromosomenstrukturveränderung, die im Zusammenhang damit stehen könnte, war bei den wegen der Fertilitätsstörungen bereits durchgeführten Chromosomenanalysen bei den Eltern ausgeschlossen worden.
Diagnostik
Es lagen keine Hinweise vor, die auf innere Organfehlbildungen deuten würden. Auch Schädelkernspintomographie und augenärztliche Untersuchung lieferten keinen auffälligen Befund. Eine Hörstörung konnte weitgehend ausgeschlossen werden, es war eine weitere Kontrolluntersuchung geplant. Bisherige umfangreiche Stoffwechseluntersuchungen lieferten keinen Hinweis auf eine Organoacidopathie, Speicherkrankheit, Carnitinmangel, Biotinidasemangel oder ein CDG-Syndrom. Auch die auswärts erfolgte Chromosomenanalyse mit Subtelomerscreening (FISH) und molekulargenetische Untersuchung bezüglich eines fragilen-(X)-Syndroms hatten unauffällige Befunde ergeben. Bei der Untersuchung fiel der Junge, der körperlich abgesehen von einer Microcephalie (Kopfumfang 1 cm unter der 3. Perzentile) altersgerecht entwickelt war, hauptsächlich durch stereotype Handbewegungen und mangelnde Blickkontaktaufnahme auf. Vom fazialen Aspekt her ließ sich eine große Ähnlichkeit mit dem Vater feststellen und auch sonst wies sein Erscheinungsbild keine auffälligen Besonderheiten auf . Mangels syndromspezifischer Dysmorphien gelang uns keine Einordnung der vorliegenden Symptome: sekundäre Mikrocephalie, frühkindliche Hypotonie, fehlende Sprachentwicklung, mentale Retardierung sowie autistische und aggressive Verhaltensstörungen, wobei die Verhaltensstörungen laut Eltern durch Therapien stets deutliche Besserung erfahren.
Durchführung der array-CGH
Mithilfe der array-CGH lassen sich sehr kleine Chromosomenveränderungen erkennen, die mit der herkömmlichen Chromosomenanalyse nicht nachweisbar sind. Bei dieser Untersuchung ließ sich schließlich eine kleine Duplikation (Verdopplung des genetischen Materials) innerhalb des kurzen Arms von Chromosom 17 feststellen – die Bande 17p11.2 betreffend. Diese Mikroduplikation, welche 3,4 Megabasen umfasst, ist ursächlich für das nach seinen Erstbeschreibern benannte Potocki-Lupski-Syndrom (PLS) (siehe Abb. 2). In der Publikation des Krankheitsbildes vom Jahr 2000 beschrieben die Namensgeber insgesamt 7 Patienten mit einer de-novo-Duplikation in der Region 17p11.2. Dabei handelt es sich um die Region, die bei dem bekannteren Smith-Magenis-Syndrom (SMS) deletiert ist. Der Publikation ging 1996 ein Bericht über zwei ähnliche Fälle voraus. Darüber hinaus sind weltweit Berichte über annähernd 100 weitere Fälle zu finden. Da der Phänotyp mangels markanter, spezifischer Dysmorphien schwierig bzw. kaum wiederzuerkennen ist, ist das PLS vermutlich unterdiagnostiziert. Seine Häufigkeit dürfte ähnlich wie bei dem klinisch besser erkennbaren und bekannteren SMS 1: 25.000 betragen, zumal beide Syndrome pathogenetisch durch ihren Entstehungsmechanismus verbunden sind. Die für das PLS verantwortliche Mikroduplikation sowie die für das „Gegenstück“, das SMS, verantwortliche Mikrodeletion dieser Region wird durch ein ungleiches crossing-over von sog. low copy repeats (LCRs) in der elterlichen Keimbahn verursacht. Wie auch andere Mikrodeletions- bzw. Mikroduplikationssyndrome werden SMS und PLS durch rekurrierende chromosomale Rearrangements auf dem Boden einer instabilen genomischen Struktur verursacht. Eine nicht homologe Rekombination (NAHR) zwischen wiederholt vorkommenden Sequenzen (LCRs) in inverser Orientierung führt zu Deletionen und Duplikationen der dazwischen liegenden Sequenzen. Das PLS beruht in der Regel auf einer de-novo-Mikroduplikation. Diese entsteht meist nur in einer der Keimzellen, die zur Schwangerschaft geführt haben. Familiäres Vorkommen der Mikroduplikation 17p11.2 wird nur ein einziges Mal bei einer Mutter und ihren zwei Kindern beschrieben.
Abb. 2: (a) Darstellung der Duplikation (Abweichung nach unten) mit Ideogramm des gesamten Chromosoms 17. In (b) ist der duplizierte Abschnitt mit den darin enthaltenen Genen zu sehen sowie die Klone des entsprechenden Abschnitts auf Chromosom 17. Die Patienten-DNA wurde mit cy3 (grün) und die Kontroll-DNA mit cy5 (rot) markiert. Eine Duplikation weicht nach unten von der Nulllinie ab.
Erscheinungsbild
Die Hauptmerkmale des PLS können bei den einzelnen Patienten in sehr variabler Ausprägung vorliegen. Dazu zählen frühkindliche Hypotonie, Ernährungsschwierigkeiten, motorische Entwicklungsverzögerung, mentale Retardierung (eher milde bis moderat, selten grenzwertige Intelligenz), Kommunikationsstörungen und meist deutliche Verhaltensstörungen. Bei allen Patienten wird eine expressive und rezeptive Sprachstörung beobachtet, teilweise eine Echolalie und häufig eine Wortbildungsstörung im Sinne einer verbalen Apraxie. Einige Patienten kommunizieren nur über Zeichen und Bilder. Zu den Verhaltensstörungen zählen vor allem Aufmerksamkeitsdefizite, Hyperaktivität und autistische Merkmale, wie das Fehlen eines adäquaten Spielverhaltens, wenig Blickkontakt, sensorische Hypersensitivität sowie repetitive Bewegungsabläufe und Beschäftigungen. Teilweise werden pathologische EEG-Veränderungen beschrieben, die jedoch ohne das gleichzeitige Auftreten von Krampfanfällen vonstatten gehen und keiner antiepileptischen Behandlung bedürfen. Bei den betroffenen Kindern werden, wenn überhaupt, nur milde faziale Auffälligkeiten beschrieben. Als faziale Gemeinsamkeiten lassen sich bei den Betroffenen eine dreieckige Gesichtsform, volle Wangen, ein verstrichenes Philtrum sowie eine schmale Oberlippe beobachten. Das Fehlen markanter Dysmorphien erschwert wie in unserem Fall die klinische Einordnung. In etwa der Hälfte der Fälle lassen sich echokardiographisch hämodynamisch nicht wirksame, kleine Fehlbildungen wie Herzscheidewanddefekte oder Herzklappenanomalien beobachten. Als häufiger Befund wird über Weitsichtigkeit berichtet, in einer Studie werden zudem gehäufte Schlafapnoen bei betroffenen Kindern beschrieben. Im Rahmen einer weiteren Studie über 28 PLS-Fälle ließen sich hingegen keine Schlafapnoen oder Atemwegsobstruktionen beobachten. Bei unserem Kind haben wir dennoch sicherheitshalber eine Schlaflaboruntersuchung, eine kardiologische Untersuchung sowie EEG- und augenärztliche Kontrolle empfohlen. Zudem wurden die Eltern und betreuenden Kinderärzte ausführlich über adäquate symptombezogene Therapiemaßnahmen im Hinblick auf die bei PLS möglichen klinischen Befunde informiert.
Bedeutung für weitere Schwangerschaften
Im Zusammenhang mit den unauffälligen Chromosomen- und array-CGH-Befunden der Eltern wurde die Mikroduplikation im Einklang mit der bisherigen Literaturdatenlage als neu entstanden beurteilt. Aufgrund der seltenen Möglichkeit eines Keimbahnmosaiks ist die Wiederholungswahrscheinlichkeit bei einer weiteren Schwangerschaft sehr gering. Im Falle einer weiteren Schwangerschaft wurde den Eltern eine vorgeburtliche Untersuchung (Chorionzottenbiopsie oder Fruchtwasserpunktion) empfohlen, um eine Mikro- duplikation 17p11.2 mittels MLPA oder array-CGH molekulargenetisch ausschließen zu können.
Schlussbemerkung
Mithilfe der molekularen Karyotypisierung, der so genannten „CHIP-Analyse“ mittels array-CGH oder SNP-array, lassen sich eine Reihe neuer Mikrodeletions- bzw. Mikroduplikationssyndrome identifizieren, die durch rekurrierende chromosomale Verluste oder Zugewinne von genetischem Material kleiner als 5–10 Megabasen (Mb) verursacht werden. Denn eine konventionelle Chromosomenanalyse kann chromosomale Rearrangements erst ab einer Größe von etwa 5–10 Mb detektieren. Mikrodeletionssyndrome mit wiedererkennbarem Phänotyp, wie u. a. die „altbekannten“ Syndrome Williams-Beuren-, Prader-Willi-, DiGeorge-/VCF-, Wolf-Hirschhorn-, Cri-du-Chat- oder Miller-Dieker- Syndrom, lassen sich bei konkreter Verdachtsdiagnose durch den Einsatz spezifischer DNA-Sonden, wie beispielsweise FISH oder MLPA nachweisen. Die gesamtgenomischen hochauflösenden Unter- suchungen, wie die array-CGH oder SNP-array, ermöglichen zudem wie oben erwähnt eine Diagnosestellung von „neuen“ Syndromen sowie von Syndromen mit schwer wiedererkennbarem Phänotyp. Für derartige Fälle etablierte Slavotinek 2008 den Begriff „reverse dysmorphology“. Diese neuen Technologien stellen zweifellos einen großen Fortschritt und eine Hilfe für den klinischen Genetiker dar. Denn die große Vielzahl von Syndromen, die mit geistiger Behinderung einhergehen und zudem häufig eine enorme klinische Variabilität aufweisen, stellen ihn vor eine große Herausforderung. Dies soll jedoch nicht den Stellenwert der notwendigen umfassenden Kenntnis des Phänotyps in der klinischen Genetik herabsetzen – zumal die Fragen der Eltern durch den alleinigen Nachweis der ursächlichen genetischen Veränderung natürlich nicht zufriedenstellend beantwortet sind. Ein ausführliches Gespräch mit dem klinischen Genetiker ist für die Eltern eines Kindes mit syndromaler Erkrankung erfahrungsgemäß sehr hilfreich, ebenso die Kontaktaufnahme mit entsprechenden Selbsthilfegruppen.