Sehr seltene Chromosomenstörung

Sehr seltene Chromosomenstörungen

Dr. med. Maren Wenzel

In unserer Syndromsprechstunde wurde uns der 2 ½ Monate alte Mario (Name geändert) von seinen Eltern mit der Frage vorgestellt, ob eine genetisch bedingte Grunderkrankung vorliegt. Der Kinderarzt empfahl den Eltern eine Vorstellung am genetikum, da ihm bei dem Jungen Besonderheiten im Gesicht aufgefallen sind und sich bei den kinderärztlichen Untersuchungen ein stets zu kleiner Kopfumfang ergab.
Bei der klinisch-genetischen Untersuchung wurden folgende Auffälligkeiten festgestellt:
Mikrozephalie, tiefer Stirnhaaransatz, leicht dysplastische und etwas tiefer angesetzte Ohren mit angehobenen Ohrläppchen beidseits, Synophrys, geschwungene Augenbrauen, Nasenspitze angehoben, langes Philtrum, lumbal starke Rückenbehaarung, Hoden rechts in der Leiste und links im Skrotum tastbar, 4-Finger-Furche beidseits, Füße mit übergeschlagenem dritten Zeh über dem zweiten Zeh.

Anamnese

Die Eltern berichteten, dass die Schwangerschaft unauffällig verlief und bei den Ultraschalluntersuchungen keine Auffälligkeiten festgestellt wurden. Mario wurde in der 40. Schwangerschaftswoche spontan bei normalen Geburtsmaßen entbunden. Er sei ein eher ruhiges Kind, welches sich zuverlässig zu den Mahlzeiten meldet.
Die Eltern selbst sind gesund und nicht blutsverwandt. Der Vater von Mario hat drei gesunde Geschwister, allerdings seien fünf weitere Geschwister bei der Geburt verstorben. Zudem gibt es in der Familie des Vaters mehrere Kinder mit einer Entwicklungsverzögerung bzw. Behinderung. Die Mutter von Mario hat drei Geschwister, die alle gesund sind und auch gesunde Kinder haben.

Genetische Untersuchungen bei Mario

Die Chromosomenanalyse ergab eine unbalancierte Translokation mit einer Partialmonosomie 9q34.3->qter und einer Partialtrisomie 22q13.31->qter. Durch eine array-CGH konnte diese näher charakterisiert werden. Es wurde eine Deletion von Chromosom 9 in der Bande q34.3 der Größe 1Mb, die 23 Gene enthält, sowie ein Zugewinn von Chromosom 22 in der Bande q13.31-q13.33 der Größe 3,7Mb, der 43 Gene enthält, festgestellt.
Karyotyp:arr[hg19] 9q34.3(139999668_141018984)x1,22q13.31q13.33(47537588_51219009)x3.

Genetische Untersuchungen bei den Eltern

Die Chromosomenanalyse bei der Mutter ergab einen unauffälligen weiblichen Chromosomensatz mit dem Karyotyp 46,XX.
Die Chromosomenanalyse beim Vater ergab den Nachweis einer reziproken Translokation zwischen einem Chromosom 9 und einem Chromosom 22.
Karyotyp: 46XY.ish t(9;22)(q34.3;q13.31).

Beurteilung

Bei Mario liegt eine Chromosomenstörung vor. In der Literatur finden sich keine Patienten, die exakt die gleiche Veränderung in derselben Kombination wie Mario haben. Daher konnte nur eine ungefähre Aussage über sein Krankheitsbild getroffen werden:
Patienten, die ein ähnlich großes Stück von Chromosom 22 zu viel haben, zeigen häufig Dysmorphien im Gesicht, einen zu kleinen Kopf (Mikrozephalie), Gehirnfehlbildungen und eine Entwicklungsstörung.
Patienten, denen ein ähnlich großes Stück wie Mario von einem Chromosom 9 fehlt, haben das sogenannte Kleefstra-Syndrom. Sie haben eine Entwicklungsstörung und eine schwache Muskelspannung sowie häufig besondere Merkmale im Gesicht (z.B. ungewöhnlich geschwungene Augenbrauen mit Synophris), einen zu kleinen Kopf und unterschiedliche Fehlbildungen und Erkrankungen wie z.B. einen angeborenen Herzfehler, eine Hypospadie, einen Hodenhochstand, Nierenstörungen, eine Epilepsie, wiederkehrende Infektionen, eine Schwerhörigkeit oder Klumpfüße. Im Verlauf können Verhaltensauffälligkeiten auftreten, z.B. Unruhe, Autismus oder Schlafstörungen. Jedoch weist keines der beschriebenen betroffenen Kinder alle Symptome gleichzeitig auf.

Wiederholungsrisiko

Mario hat die Chromosomenstörung von seinem Vater ererbt, der die Translokation zwischen einem Chromosom 9 und einem Chromosom 22 in balancierter Form trägt und daher selbst gesund ist. Vermutlich hat er selbst die Chromosomenveränderung auch von seinen Vorfahren geerbt. Für weitere Kinder besteht daher ein erhöhtes Wiederholungsrisiko für eine Chromosomenstörung (unbalancierte Translokation) mit entsprechenden klinischen Auffälligkeiten wie z.B. einer Entwicklungsstörung und angeborenen Fehlbildungen. Außerdem kann es gehäuft zu Fehlgeburten kommen.

Vorgeburtliche Untersuchungen

Es besteht die Möglichkeit bei einer weiteren Schwangerschaft vorgeburtliche Untersuchungen in Anspruch zu nehmen, um den Chromosomensatz des erwarteten Kindes abzuklären. Zur sicheren Beurteilung muss zusätzlich zur Chromosomenanalyse eine FISH-Untersuchung der Chromosomenenden der Chromosomen 9 und 22 erfolgen, um die Translokation sicher beurteilen zu können.
Wenn die Schwangerschaft über eine künstliche Befruchtung erfolgt, kann eine genetische Untersuchung des Embryos erfolgen, bevor er in die Gebärmutter eingesetzt wird (Präimplantationsdiagnostik). Dieses Verfahren wird in Deutschland aktuell nur auf Antrag genehmigt.

Bedeutung für die Familie des Vaters

Da in der Familie verschiedene Personen früh verstorben sind und / oder eine Behinderung haben, tragen eventuell auch Verwandte die beim Vater vorliegende Translokation, und möglicherweise stehen die Behinderungen und Todesfälle damit in Zusammenhang. Wir empfahlen daher den Verwandten eine genetische Beratung und ggf. Chromosomenanalyse.